„Die größte List des Teufels besteht darin, den Menschen glauben zu machen, es gebe ihn nicht.“
(Charles Baudelaire)
Nach 29 Jahren entdeckt der Versicherungsangestellte Truman Burbank, dass er Zeit seines Lebens lediglich der Hauptdarsteller einer TV-Realityshow war. Die Geschichte, in der er lebte respektive ohne es zu wissen sein Leben „schauspielerte“, gerät letztlich aus den Fugen, als versehentlich ein Scheinwerfer, der einen Stern darstellen sollte, direkt vor ihm auf dem Boden aufschlägt. Ein herber Schlag auch für all die Fans an den TV-Bildschirmen, denn Truman folgt nun nicht mehr dem für ihn geschaffenen Narrativ.
In der Truman Show sind die Grenzen zwischen Schauspielern und Voyeuren klar. Heute ist es komplizierter. Denn die Zuschauer sind Teil eines von Fernsehproduktionen geschaffenen Vexierspiels, in dem sich die Grenzen zwischen Erfundenem und Geschehenem auflösen. Sie stecken in einem perfiden Spiel, von dem sie nicht wissen, dass sie die Protagonisten sind. Was ist wirklich „true“?
Game Over für die Alten
Im Tatort „Game Over“ sehen sich die beiden über 50-Jährigen Kommissare einer Online-Gamer-Welt gegenüber, die sie nicht verstehen. „Zwei der dienstältesten Tatort-Kommissare müssen sich mit E-Sports beschäftigen – eine reizvolle Konstellation, die sich die Drehbuchautoren Stefan Holtz und Florian Iwersen für diese Folge ausgedacht haben. Und das Konzept geht auf: Batic und Leitmayr werden aus ihren Ermittlungsroutinen herausgeholt, bleiben aber auf Distanz zur Welt des Online-Gaming – das „Real Life“ behält stets die Oberhand.“ (1)
Das Klischee der mehrheitlich jungen, nerdigen Online-Junkies wird reichhaltig bedient, obwohl 50plus seit Jahren die größte Onlinegamer-Gruppe ist. Der Milliardenmarkt wird damit von eben jenen dominiert, die in der kollektiven Darstellung als unbeholfene, weißhaarige Alte wahrgenommen werden. Der Rückzug in die Münchner Gemütlichkeit mit Eichefurnier und Rauhaardackel kommt offenbar gut an – zumindest bei denjenigen, die sich in dieser scheinbar realen Welt gemütlich eingerichtet haben. „Mir hat vor allem die selbstironische Inszenierung gefallen: Die jungen Helden der Gamerszene sitzen sich adrenalingetränkt vorm Bildschirm den Hintern platt, während unsere beiden Boomer im Real Life atemlos durch Verfolgungsjagden stolpern, die teilweise deutlich an die Ego-Shooter-Perspektive angelehnt sind.“ kommentiert arte-Verstehr (2). Was ist denn nun das Real Life? Die Wahrnehmung der Realität von arte-Versteher, gestützt durch die Darstellung einer Öffentlich-Rechtlichen Produktion oder die faktenbasierte Wirklichkeit? Schafft die Realität Fiktion oder umgekehrt?
Wer schafft die Realität?
Filme generieren Realität, indem sich die Macher an einer kollektiven Vorstellung des Altseins bedienen. Es sind die bekannten, althergebrachter Klischees, um der Erwartungshaltung des Publikums zu entsprechen und damit Einschaltquoten zu generieren. „Unsere Gedankenwelt im Heute begrenzt unseren Horizont für die Zukunft. Wir haben ein Bild von etwas und streben danach, dieses Bild zu erfüllen. Das betrifft auch das Bild vom Alter: Wir sehen die uns umgebenden älteren Menschen und meinen, dass wir selbst dieses Bild in Zukunft erfüllen werden (müssen).“, stellte die Studie „Digital Ageing“ von Gottlieb Duttweiler Institute und Swiss Life bereits 2015 fest. Wenn sich der Begriff „Alter“ auflöst, werden vor allem diejenigen gefragt sein, die in den entscheidenden Positionen sitzen. Die Frage dort lautet dann nicht „Bist Du nicht ein bisschen zu alt für sowas?“, sondern „Bist Du denn schon alt genug für sowas?“ (siehe auch „Bist Du nicht ein bisschen für alt für sowas?“).
Im Schwarzwald-Tatort „Das geheime Leben unserer Kinder“ prallen Boomer und GenZ so aufeinander, wie es sich (in den Augen der ARD) gehört. Kommissar Friedemann Berg „nervt die Empfindlichkeitsattitüde der „Gen Z“. An Autorität mangele es heutzutage, an Grenzen. Immerzu Verständnis von den Altvorderen, damit fange die Malaise an. Womit er vermutlich nicht wenigen Zuschauern dieses „Tatorts“ aus der Seele spricht.“ (3). Ist der Konflikt zwischen den Generationen tatsächlich so verhärtet wie in den gängigen medial verbreiteten Klischees? Und wenn ja, wären dann nicht alternative Darstellungen angesagt, die ein Momentum des Miteinanders generieren? Welches Narrativ ist das interessantere: Der immer wiederkehrende Dreiklang das-war-schon-immer-so/das-war-noch-nie-so/da-könnt’-ja-jeder-kommen – oder eine kreative Erzählung, die nicht Bestehendes verfestigt, sondern Neues erschafft, indem sie zum Nachdenken anregt? Wie genau lautet nochmal der Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen?
Vom Klischee zum Konflikt
Der Tatort „von Astrid Ströher (Buch) und Kai Wessel (Regie) zielt dabei weniger auf Verständnis für differenziertere Ansichten und Einstellungen der „Generation Z“ als darauf, die Tiefe des uralten Grabens zwischen den Generationen zeitdiagnostisch auszuloten. Dieser „Tatort“ ist kein Verjüngungsangebot der Öffentlich-Rechtlichen, sondern ein Film für die Generation, „die es verkackt hat“.
Ob Wohnen, Energie, Klima, die „Boomer“ sollen schuld an allen Zukunftskrisen sein. Ihr Wohlstand, so beschreiben es die Jüngeren, verdanke sich ihrer Verantwortungslosigkeit. Die Älteren beklagen, dass die Anstrengungsbereitschaft der „Gen Z“ gegen null gehe, sehen eine „wahnsinnige Innerlichkeit und Empfindsamkeit“ und nicht zuletzt „maximale Toleranzforderung“ bei eigener Toleranzaversion. Mancher Befund stimmt seit anno dunnemals. Mancher Vorwurf ist neu, wie der des Verlusts der Selbstironie bei der „Gen Z“. Ein Fünkchen Selbstironie hätte auch „Das geheime Leben unserer Kinder“ gutgetan.“ (4)
Solange insbesondere ältere Menschen so dargestellt werden, verhärten sich nicht nur im gesellschaftlichen Kontext klischeehafte Vorstellungen, sondern auch vor dem Hintergrund von Entscheidungen in Wirtschaft und Politik – Kommunikationskonzepte, Marketingstrategien, Unternehmensentscheidungen, politische Haltung. Das Marketing folgt den gleichen Mechanismen, indem es den Erwartungshaltungen nachspürt und sie damit zugleich verstärkt.
Die selbstverstärkenden Mechanismen haben mithin eine signifikante Kraft, deren Auswirkungen es Wert wären, dass sie einmal bis in die kleinsten individuellen Verästelungen verfolgt und analysiert würden. Denn oftmals scheint es, dass selbst viele Ältere diesen publizierten Bildern entsprechen wollen und sich nicht trauen, so zu sein, wie sie gern möchten, Stichwort: „Bist Du nicht zu alt dafür?“. Allzuoft fällt dieser Satz auch in Filmen, wenn kauzige Alte sich plötzlich etwas für die Augen anderer ganz Ungewohntes trauen. Allerdings ist das oftmals einerseits so überzeichnet oder andererseits so altbacken, dass es bei rechter Betrachtung nicht über traurigen Klamauk hinauskommt.
Ein neues Narrativ
Noch spannender als die Tatorte sind die Produktionen, in denen die Schauspieler selbst bereits mit 50 abdanken und auf ihr aufregendes Leben zurückblicken. So zum Beispiel der Schauspieler Jürgen Tarrach, 60, befragt zum ZDF-Projekt „Um die 50“: „Mit 50 beginnt das Altern. Obwohl man heute ja sehr alt werden kann, ist die Jugend unwiederbringlich vorüber – dem trauert man nach“, sinniert der Carlo-Darsteller Tarrach im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Ich persönlich habe ein aufregendes Leben gehabt, ein glückliches. Ich schaue auf ganz reichhaltige und vielfältige Zeiten zurück.“ (5) Nachtrauern? Zurückblicken? Steht das Interview auch im Drehbuch zum Film, hat der Film auf Tarrach abgefärbt, müssen wir uns Sorgen um den Schauspieler machen? Sagt er nur, was eben gesagt werden muss – oder sollte er mal eine andere Story erzählen?
Im Film „Die üblichen Verdächtigen“ wird das Dilemma mit einem Zitat von Charles Baudelaire auf den Punkt gebracht: „Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war die Welt glauben zu lassen, es gebe ihn gar nicht.“. Kann das gängige Narrativ der Alten verändert werden, ohne dass die Einschaltquoten sinken? Oder liegt es gerade an dieser tradierten Erzählung vom Altsein, dass immer weniger Menschen fernsehen? „Der Zuschauer wird zum Voyeur der Voyeure bei Trumans allmählicher Entdeckung einer alternativen Realität. Brillant inszeniert und gespielt, nimmt der Film Medienmanipulation, Konformismus und Kommerzialisierung aufs Korn … .“ (6)
Der größte Trick, nicht mehr auf die anbiedernden Fernseh-Produktionen hereinzufallen, ist, gute Filme zu streamen, ein gutes Buch zu lesen oder – insbesondere von Seiten der Verantwortlichen in den Sendern –, Geschichten zu erzählen, die die tradierten Sehgewohnheiten verlassen und neue (und realere) Sichtweisen ermöglichen. Die Entscheidung liegt somit auch zwischen kommerziellem Brain Fast Food und spannenden Geschichten, die etwas mehr Gehirnschmalz in der Produktion erfordern.
Christof, der Produzent der „Truman“-Serie, beschwört Truman am Ende, in dem Filmstädtchen Seahaven zu bleiben, doch der wählt den Exit. Bevor er geht, wiederholt er den Spruch, den er bei jeder Begrüßung im Film sagte: „Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Guten Tag, Guten Abend und Gute Nacht!“
(1) (2) tatort-fans.de, 22.05.2023
(3) (4) FAZ, 12.05.2023
(5) Der Standard, 26.08.2021
(6) Lexikon des internationalen Films, 2017
©Bild: Stas Ostrikov auf Unsplash