Personalmangel überall: Arbeitgeber können es sich eigentlich nicht mehr leisten, ältere Bewerber links liegen zu lassen. Einige tun es trotzdem. Doch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen.
Von einem Run auf ältere Bewerber können die großen Personalvermittler Adecco und Randstad nicht sprechen. Die Vermittlungsquote dieser Altersgruppe stagniert seit Jahren auf niedrigem Niveau. Randstad stellt jährlich etwa 6 Prozent neue Zeitarbeitnehmer über 55 Jahre ein, die im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung an Kunden „ausgeliehen“ werden. Signifikant verändert hat sich an dieser Zahl in den vergangenen drei Jahren nichts. Ähnlich sieht es bei der direkten Personalvermittlung aus, bei der Kundenunternehmen Randstad quasi als Headhunter beauftragen. Jährlich vermittelt Randstad nur etwa 5 Prozent aus der Babyboomergeneration (Jahrgänge 1964 und älter).
„Es ist medial ein großes Thema, und vom Bauchgefühl her müsste man denken, die Unternehmen stellen nun auch vermehrt ältere Bewerber ein. Die Realität sieht aber anders aus“, resümiert Carlotta Köster-Brons, Leiterin des Berliner Randstad-Büros. Warum Unternehmen ihre Vorbehalte gegen die ältere Generation noch immer nicht ablegen, kann sie sich nicht richtig erklären. Dabei liegt in dieser Altersgruppe – Köster- Brons nennt sie freundlich „Best Ager“ – ihrer Meinung nach sehr viel Potential. „Leider tun sich viele Unternehmen so schwer, wo es doch so einfach wäre.“ […]
Wenn sie reifere Bewerber vermitteln wollten, erfordere das viel mehr Überzeugungskraft und Kommunikation, erklärt Köster-Brons. „Es braucht immer eine Runde mehr, bis Ältere zum Zug kommen. Wir müssen in dem Fall individuell sehr viel mit den Firmen sprechen und ihre Bedenken zerstreuen. Dann kann es klappen.“ […]
Dass diese Biographien noch die Ausnahme sind, bestätigt eine Studie der Universität Gent. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass keine andere Gruppe so sehr bei der Stellenvergabe diskriminiert wird wie die über 50-Jährigen. Ihre Chancen auf ein Vorstellungsgespräch sind um 48 Prozent geringer als die von jüngeren Mitbewerbern. Der Hauptgrund dafür ist laut der Studie, dass ältere Arbeitnehmer in Europa als zu teuer wahrgenommen werden. […]
Altersdiskriminierung ist laut Lippens die häufigste Form der Diskriminierung, die aber am wenigsten öffentlich wahrgenommen wird. […] Es ist ernüchternd, dass sich in den vergangenen 15 Jahren gegenüber älteren Bewerbern so gut wie nichts verändert hat, trotz Kampagnen, Aufklärungsarbeit, politischer Bemühungen und des viel beklagten Fachkräftemangels. Dabei könnte dieser durch ältere, externe Bewerber gelindert werden, wenn man in sie investiert […].
Ingrid Sonntag hat es nicht bereut, in der zweiten Lebenshälfte noch einmal beruflich durchzustarten, sagt sie. „Mir hat die neue Herausforderung mega Spaß gemacht.“ Dass Fachkräfte händeringend gesucht werden, war für sie von Vorteil, mutmaßt sie. „Sonst hätte ich in meinem Alter wahrscheinlich nicht so schnell eine Festanstellung bekommen.“
Sie kann Arbeitgebern nur empfehlen, älteren Bewerbern eine Chance zu geben. Diese könnten sich genauso gut auf Neues einstellen wie Jüngere, meint sie. Junge Leute hätten hingegen oft noch keine so klare Vorstellung davon, wohin sie in ihrer beruflichen Karriere wollen. […] Die Zielstrebigkeit und Lebenserfahrung älterer Arbeitnehmer sollten Unternehmen mehr wertschätzen, findet die 53-Jährige. Dieser Meinung ist auch Köster-Brons von Randstad. Sie denkt, dass sich positive Beispiele wie die von Ingrid Sonntag mehr herumsprechen müssen, damit ein Umdenken stattfindet.
Die Personalvermittlerin sieht aber auch die Arbeitnehmer in der Verantwortung, die eine andere Einstellung zur Beschäftigung bräuchten. Es sei nicht so, dass ältere Bewerber Randstad die Türen einrennen. Laut einer internationalen Randstad-Arbeitsstudie würden 15 Prozent der Befragten in einer idealen Welt gern in Rente gehen, bevor sie 50 werden, und rund ein Drittel, bevor sie das 60. Lebensjahr erreicht haben.
Die Realität sieht allerdings anders aus: 2021 waren laut Statistischem Bundesamt noch 72 Prozent der 55- bis 64-jährigen Deutschen erwerbstätig, was immerhin zehn Prozent mehr als zehn Jahre zuvor waren. Ab 60 nehmen die Beschäftigungszahlen dann weiter deutlich ab. De facto können es sich aber die wenigsten leisten, so früh in den Ruhestand zu gehen. Die aktuell steigenden Lebenshaltungskosten zwingen sogar viele dazu, ihren Ruhestand aufzuschieben, besagt die Randstad-Studie. Das müssen Berufstätige nicht zwingend nur als Bürde betrachten. Durchaus möglich ist es auch, in höherem Alter selbst den Wunsch zu verspüren, weiterzuarbeiten, vielleicht sogar einen Berufswechsel zu vollziehen. […]
Dies zeige auch, dass nicht das Alter, sondern die Motivation und Leidenschaft für einen Beruf entscheidend seien, meint der 54-Jährige. Dieses Potential sollten Arbeitgeber sich nicht entgehen lassen. „Wir bringen auch noch ein paar weitere Vorteile wie Lebenserfahrung und mehr Wissen mit.“ Das Vorurteil, dass Ältere öfter krank seien als Jüngere, stelle er auch nicht unter den Kollegen fest. […]
©Text: FAZ, 2023 | ©Foto: Gabin Vallet auf Unsplash