Wer heute sechzig ist, fühlt sich nicht so – er ist körperlich, mental und intellektuell zehn bis fünfzehn Jahre jünger. Warum die Verlängerung der Jugend trotzdem keine gute Nachricht ist. […]
Es ist eher ein Geschehen im Passiv, ein Akt des Staunens und Sichwunderns allenfalls, wenn ein Mann, der den fünfzigsten, vielleicht sogar den sechzigsten Geburtstag hinter sich hat, manchmal morgens in den Spiegel schaut. Und sich dann fragt, wann all das, wofür er einst die älteren Herren bewundert und beneidet hat, endlich auch ihm zufallen werde: die Würde, die Weisheit, die Anciennität. Die Urteilssicherheit, die Selbstgewissheit. Nichts davon ist aber zu erkennen. Stattdessen spürt er eher die Erleichterung darüber, dass, trotz den grauen Haaren, von Seniorentum und Rentnerhaftigkeit noch nichts, absolut gar nichts zu sehen ist. Und womöglich spürt er die Furcht, dass das Alter, wenn es dann doch kommt, ein Gemetzel anrichten wird in diesem sich jugendlich fühlenden Selbst.
Wer heute fünfzig, sechzig, siebzig ist, fühlt sich nicht nur so – er ist tatsächlich, körperlich, mental und intellektuell zehn bis fünfzehn Jahre jünger, als es die Väter, gar die Großväter im gleichen Alter waren. Das liegt an der Ernährung, die besser ist. Es liegt an der besseren Medizin, mehr Bewegung, längeren Ferien und weniger schwerer körperlicher Arbeit, was alles dem Verschleiß entgegenwirkt. Vor allem hat es aber kulturelle Gründe: Wer Kopfarbeit leistet, Verantwortung trägt, selbst ein paar Dinge entscheiden kann, der hat längst gemerkt, dass all die Fähigkeiten und Eigenschaften, die man der Reife und dem Alter zuschreibt, dass also Erfahrung, Besonnenheit, Traditionsbewusstsein und eine gewisse Skepsis gegenüber der allerneuesten Mode kaum nachgefragt werden.
Wogegen Neugier, Risikofreude und eine gewisse revolutionäre Ungeduld, die eigentlich Kennzeichen der Jugend sind, auch nach dem vierzigsten Geburtstag demonstriert, perfektioniert und bewahrt werden sollen: weil so, nämlich disruptiv und im permanenten Wandel, die Welt eben sei, in der man sich behaupten müsse. Er ist verdammt zur Jugendlichkeit. […]
Schauspielerinnen wie Cate Blanchett, Robin Wright, Tilda Swinton, die lange nach ihrem Fünfzigsten die schönsten weiblichen Hauptrollen angeboten bekommen (in einem Alter, da Frauen früher allenfalls die Tante des Helden spielen durften), sind ja nicht die Ausnahme von der Regel, sondern nur deren am deutlichsten sichtbarer Ausdruck […]
Aus der Perspektive der wirklich Jungen sieht es allerdings so aus, als ob die Junggebliebenen ihnen die Luft zum Atmen nähmen, die Räume verengten, den Widerspruch verweigerten. Jung zu sein, schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Pogue Harrison in seinem lesenswerten Essay „Ewige Jugend – Eine Kulturgeschichte des Alterns“, heißt, die Tradition zu verwerfen, das Selbstverständliche zu leugnen, das Neue nur um des Neuen willen herbeizusehnen. Es ist also eine Bewegung, deren Energie sich aus dem Konflikt mit den Beharrungskräften speist. Wenn keiner mehr alt ist, ist auch keiner mehr jung. Wenn alle jung bleiben, ist der Begriff nichts mehr wert. […]
Altern sei vielleicht eine Funktion der Zeit; vor allem sei aber die Zeit eine Funktion des Alterns, schreibt Harrison – und dass er recht hat, offenbart sich darin, dass, all der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz zum Trotz und völlig unbeeindruckt vom Dauergerede über Innovation und Disruption, die Zeit der Kultur sich radikal verlangsamt hat, seit auch die Alterungsprozesse so langsam verlaufen. Im zwanzigsten Jahrhundert brachte jedes Jahrzehnt seinen eigenen Stil hervor. Seit dreißig Jahren, so kommt es einem aber heute vor, ist nichts nennenswert Neues mehr erschienen am Horizont der Ästhetik. […]
Was, wenn man Harrisons Gedanken folgt, auch nicht erstaunlich ist. Wenn unsere Kultur lebendig bleiben will, wenn sie nicht im Gefängnis einer ewigen Gegenwart verkümmern, sondern ihre eigene Zukunft gewinnen will, dann brauche sie beides: das, was er das Genie der Jugend nennt, also das Talent zum Umsturz, die Neugier aufs nie Gesehene und Gedachte, eine radikale Kindlichkeit. Und andererseits das, was er die Weisheit des Alters nennt, also Erfahrung und Erinnerung, das Gedächtnis der Toten, das Bewusstsein davon, dass wir sind, wer wir sind, weil wir eine Geschichte haben. Erst diese Weisheit schaffe es, das radikal Neue in verständliche Begriffe und fassbare Formen zu übersetzen und ihm einen Platz in der Tradition zu sichern. Zukunft sei also nicht schon das Ergebnis des Umsturzes, sondern Produkt dieser Übersetzungsarbeit. Kein Wunder, dass wir zur Zeit so wenig davon haben. […]
©Text: FAZ, 10.04.2023 | ©Foto: Jonathan Cosens auf Unsplash