Befristete Stellen, unbezahlte Praktika und finanziell wenig blumige Zukunftsaussichten: Warum die Empörung über den Angriff von Andrea Nahles auf die Arbeitsmoral der Jugend so schnell nicht abklingen wird.
Dass Arbeit kein Ponyhof ist, weiß ich nicht erst, seit Andrea Nahles es mir gesagt hat. Nicht mir persönlich, sondern der „jüngeren Generation“ und streng genommen nicht einmal der, sondern auf dem Umweg über Interviews mit der F.A.S. und der „Augsburger Allgemeinen“. Sechs Wochen ist das nun her, aber der Satz hallt nach.
Auch in den sozialen Netzwerken, wo er zum knackigen Schlagwort im Generationenkampf geworden ist. Denn man war sich natürlich längst darüber bewusst, dass Arbeit kein Zuckerschlecken ist, dass Leistung Arbeit auf Zeit bedeutet und dass der frühe Vogel den Wurm fängt. Dafür brauchte es kein Interview mit der Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit. „Arbeit ist kein Ponyhof“ ist das Äquivalent zu „Ohne Fleiß kein Preis“ – in der Sache völlig richtig, aber in diesem Fall selbstgerecht und am Thema vorbei.
Unter Millennials auf Twitter ist die Empörung besonders groß, denn die meisten dort teilen die Erfahrung befristeter Stellen, unbezahlter Praktika und finanziell wenig blumiger Zukunftsaussichten. Da braucht man nicht einmal ans Rentenalter zu denken, das man ohnehin als Armutsgarant abgeschrieben hat, die aktuelle Inflationsrate gibt schon genügend Anlass, auch für die nahe Zukunft über Arbeitswillen und -wert zu sinnieren. Von den ewig steigenden Mieten, die den Großteil des Gehalts verschlingen, einmal abgesehen. […]
In einem Arbeitnehmermarkt, wie wir ihn aktuell aufgrund von demographischem Wandel und fehlendem Nachwuchs erleben, müsse „Work-Life-Balance“ neu verhandelt werden. Das heiße auch, dass Unternehmer ihren Beschäftigten Gehör schenken und auf Wünsche eingehen müssten, um Arbeitskräfte zu halten. Im internationalen Vergleich fällt einem da sofort die Viertagewoche ein, auf die Beschäftigte in Belgien seit November sogar rechtlichen Anspruch haben. In einer Forsa-Umfrage vom Anfang des Jahres sprachen sich einundsiebzig Prozent der Befragten dafür aus, ein ähnliches Modell auch in Deutschland einzuführen. […]
In Deutschland waren 126 Millionen Krankheitstage im Jahr 2021 auf psychische Leiden zurückzuführen, wie eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab. Das sind sieben Millionen mehr als im Vorjahr. Darüber, ob zusätzliche Auszeiten hier Abhilfe schaffen würden, lässt sich nur spekulieren, die Vermutung liegt aber doch nahe. Insbesondere weil die Pandemie das Arbeitsleben nachhaltig verändert hat: Während Nahles noch von „Work-Life-Balance“ spricht, womit sie eine Trennung von Arbeit und Freizeit suggeriert, ist man in vielen Branchen schon zum „Work-Life-Bending“ übergangen: Im Büro werden private Anrufe angenommen, dafür am Abend E-Mails an die geschäftliche Mailadresse gelesen, und so werden aus vierzig Wochenstunden schnell mehr, wobei niemand von Überstunden spricht.
Nahles’ platte Spitze gegen Berufseinsteiger ist daher nicht bloß die Neuauflage einer Uraltdebatte um die Arbeitsmoral nachfolgender Generationen, sie geht auch völlig an der Lebensrealität derer vorbei, die gerade auf den Arbeitsmarkt rücken und dort die eigenen Grenzen neu verhandeln müssen. Nicht als Faulpelze, sondern als Realisten. […]
An dieser Stelle könnte beschwichtigend eingeworfen werden: Es gibt sie tatsächlich noch (in Vielzahl sogar), die jungen Leute, die am Wunsch nach Aufstieg in Traditionsbranchen und nach materiellen Statussymbolen wie der familieneigenen Autoflotte und dem freistehenden Einfamilienhaus in Vorstadtlage festhalten. Für sie ist Arbeit noch Selbstzweck und „Quiet Quitting“ – zu Deutsch: Dienst nach Vorschrift – ein Schimpfwort. […]
Uns Jungen fehlt nicht die Lust an sinnstiftender Beschäftigung. Wir hegen nur das Bedürfnis, Freiheiten zu haben, Verantwortung zu tragen, Vertrauen zu genießen und nach Feierabend noch zu mehr in der Lage zu sein, als erschöpft auf dem Sofa zusammenzusacken. Dass das geht, zeigen junge Unternehmen, die ihre Mitarbeiter aus der Ferne arbeiten lassen, schräge Team-Building-Events an Stränden und in Erlebniswäldern organisieren und dabei auf Freiwilligkeit und Spaß an der Arbeit setzen. […]
Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Kommentatoren auf Twitter am Bild abarbeiteten, mit dem Nahles zur Vertreterin einer schimpfenden Elterngeneration wurde. Auf dem Ponyhof, so der Tenor, sei schweißtreibende Arbeit gefordert, nicht nur Pferdestreicheln. Wenden wir es so: Arbeit ist tatsächlich ein Ponyhof, aber eben mit allem, was dazu gehört. Es ist an uns, diesen Hof zu gestalten und unausgesprochene Erwartungen gegen Transparenz einzutauschen.
©Text: FAZ, 06.04.2023 | ©Foto: A.P.L.